Ewig vor uns her geschoben, mit wenig Vorfreude bedacht sind wir am letzten Programmpunkt unserer Norwegen Reise angelangt: Die Begehung von Trolltunga.
Eine Bergtour die es schon nur durch Erzählungen in sich hat. Ein langer Aufstieg, dafür wohl ein sagenhafter Ausblick auf einer Felszunge die über mehrere hundert Meter Abgrund ragt. Kein Unterfangen für das ich mich freiwillig entscheiden würde, jedoch eines das ich bereue wenn ich es nicht einmal versuche. Also haben wir es solange wie möglich hinaus geschoben. Und dann war der besagte Freitag da. Fast schon auf eine Schlechtwetterfront hoffend, klicke ich den Wetterbericht zum zehnten mal an. Bewölkt mit Sonnenschein, steht in kleinen Lettern auf meinem Mobile. Hilft wohl nichts, grummele ich in mich hinein. Wir stehen auf einem Supermarktparkplatz und packen Dave’s großen Rucksack mit den benötigten Utensilien voll. Nochmals rufe ich mir die Eckdaten ins Gedächtnis: 22 km hin und zurück, vom obersten Parkplatz. Dieser kostet für 14 h jedoch 400 Kronen. Das macht 40 €. Ein teures Unterfangen. 700 m Höhenunterschied, 200 – 300 Besucher täglich. Wir entscheiden uns gegen den Stress der Parkuhr und wollen auf dem Gipfel eine Nacht zelten. Der Nachteil daraus ist jedoch, dass Dave 20 kg auf dem Rücken hat. Also wird nur das nötigste in das blaue Monstrum gesteckt. Wir verzichten sogar auf den Kocher und die große Gaskatusche. Belegtes Brot und Wasser muss ausreichen. Leicht angespannt kommen wir am ersten Parkplatz an. Ein blaues Schild verbietet Wohnwagen und Bussen bis zu dem sechs Kilometer entfernten letzten Parkplatz zu fahren und fordert gleichzeitig auf bereits hier den saftigen Parkpreis zu zahlen. Wir halten neben einem Tennisplatz in der Hoffnung hier keinen Parkzettel vorweisen zu müssen. Es ist 10:30 Uhr, niemand weit und breit zu sehen. Wir bitten Gott um einen guten Aufstieg, seinen Schutz und einfach eine gute Zeit.
Die Sonne ist inzwischen hinter den Wolken hervorgekrochen und scheint erbarmungslos auf uns hinab. Die ersten sechs Kilometer, zum eigentlichen Startpunkt, verlaufen in Serpentinen und steil. Ab und zu fährt ein Auto an uns vorbei, die ausgestreckten Daumen nicht beachtend. Schweiß verbreitet sich großflächig über unseren Körpern, die ersten Wasserreserven gehen zur Neige. Ich blicke den grau grünen Berg an, frage mich wieso wir das machen. Jetzt bloß nicht die Motivation verlieren, es hat noch nicht mal angefangen! Nach vier Kilometer Bergstraße hält endlich ein Audi A7 und nimmt uns die letzten 2000 meter mit. Und dann beginnt die eigentliche Tour. Groß angelegte Warntafeln beschreiben genau zu welchen Jahres- und Uhrzeiten der Steig passierbar ist, was unbedingt mitgeführt werden muss, und ein Höhendiagram zeigt deutlich welche Abschnitte am schwierigsten sind. Andere junge Leute gesellen sich zu uns. Dass die ersten vier Kilometer die härtesten seien, haben wir nach nicht mal fünf Minuten begriffen. Ovale, von Matsch überzogene Steinstufen liegen in engen Kurven angelegt am Steilhang. Jeder Schritt genießt äußerste Vorsicht, die Hände suchen an Baumstämmen halt. Es ist unerträglich heiß. Schiele zu Dave rüber, der unter seinem Gewicht fast einzugehen droht. Habe ein schlechtes Gewissen, dass ich nur einen Tagesrucksack trage. Bin gleichzeitig wahnsinnig froh darüber. Der Pfad gleicht einem Schlammparkour, lediglich bläulich miefende Seile bieten noch Halt. Ich überhole eine Chinesin, die nur einen Turnbeutel bei sich hat. Mit ihren weißen Halbschuhen tipselt sie Gleichgewicht haltend verzweifelt auf der Stelle.
Dave und ich verfallen in Trance, reden kaum noch, haben nur noch ein Ziel: Durchhalten. Nach der drei Kilometergrenze führt der Weg erneut in einen nur aus Steinen bestehenden Steilhang. Die Sonne hat sich wieder hinter den Wolken verschanzt, ein kalter Wind zieht auf. In stiller Eintracht erklimmen wir Stück für Stück. Dann fallen die ersten Tropfen. Gegen 17:00 Uhr hat sich der Weg in ein reißendes Bachbett verwandelt, wir sind trotz Regenjacken völlig durchnässt und unser Atem verlässt in kleinen weißen Wölkchen stoßweise unsere Münder. Bis zum Gipfel fehlen uns noch weitere drei Kilometer. Umdrehen ist keine Option.

Der Regen hat nachgelassen und äußerst motiviert geht es weiter. Es geht motiviert weiter. Ach, seien wir ehrlich, es geht halt einfach weiter, weil zurück auch keine Option mehr ist.
Nebel zieht auf, lässt uns den Pfad der Qualen nur noch schwer erkennen. Nach einem gefühlten halben Leben, haben wir es dann endlich geschafft. Steif staksen wir die letzten Schritte und sind angekommen, in einer extrem kalten und dichten Nebelsuppe umgeben von Stein. Großartig! Diese Aussicht. Ich bin völlig von den Socken.
Mit gebückten Rücken irren wir über den steinigen Boden, nach einer geeigneten Schlafstätte Ausschau haltend. Kälte kriecht in die nasse Kleidung und meine Zehen sind taub. Auf einer schiefen Ebene, in Richtung Abhang finden wir schließlich einen Fleck nass triefender Erde. Meine steifen Finger scheitern bereits an der Rucksackschnalle. Ich bin entsetzlich müde und will nur noch irgendwohin wo es warm ist. „Super Gott, das läuft ja echt toll hier! Ausgehungert, nass, und nicht mal nen Ausblick“, schimpfe ich in Gedanken vor mich hin. „Wollt ihr n Kaffe?“, reißt mich eine Stimme aus meinen trübsinnigen Gedanken. „Pefferminz ham wa och!“
Zwei Meter entfernt stehen zwei Typen vor ihrem bereits aufgebautem Zelt und sehen mich fragend an. Ihre Blicke sind mitleidig, scheinbar sehen wir wie zwei begossene Pudel aus. „Oh ja bitte gerne!“, hauche ich aus. Sofort laufen Tobias und Stefan aus Potsdam geschäftig um ihr Zelt herum und bereiten alles vor. Ein dampfender Becher Tee wird mir in die Hand gedrückt und ich bin einfach nur noch dankbar. Es beginnt bereits wieder zu regnen, so schnell wir können bauen wir unser Zelt auf und bereiten die Schlafsäcke aus. Mit Rucksack und nassen Klamotten im Zelt ist es zwar nicht gerade gemütlich, aber Stefans und Tobias Diskussion über den nassen Zeltboden ihrerseits im Berliner Dialekt lässt uns die Unannehmlichkeiten der Situation schnell vergessen. Dem amüsanten Stimmengewirr lauschend liegen wir in unseren Schlafsäcken und warten auf die ersehnte Wärme, die aber leider auch nach zwei Stunden noch nicht eingetreten ist. Irgendwann scheinen wir eingeschlafen zu sein, denn als ich meine Augen wieder öffne, ist es stockdunkel. Wind peitscht Regen gegen unsere Zeltwand. Ich versuche meine Gedanken wieder an einen warmen Ort zu schicken, doch fiese Bauchkrämpfe hindern mich am erneuten einschlafen. Ein Gedanke erklimmt mein Hinterstübchen. „Nicht jetzt. Das kann doch nicht wahr sein!“, herrsche ich meine Gebärmutter an. „Echt jetzt? Immer zu den unmöglichsten Zeiten“. Rede mir ein, dass wenn ich mich nicht bewege, ich vielleicht bis morgen abwarten kann. Doch der Verstand siegt. Schwach schäle ich mich aus dem gerade warm gewordenen Schlafsack auf der Suche nach den benötigten Utensilien, schlüpfe barfuß in die nassen Schuhe und öffne die Zeltwand. Die kleine Taschenlampe des Handy’s wirft ein gespenstisches Licht auf den hereindrängenden Nebel und das rote Maleur. Unser Zelt scheint von einer weißen Wand umgeben zu sein, es herrscht Totenstille.
Trolltunga- immer noch, 7:00 Uhr morgens
Bevor ich ganz Herr meiner Sinne bin, dringt bereits ein: „Dat kann doch nicht wahr sein, jetz hängen wir immer noch in der trüben Suppe! Aber de Sonne kommt, dit hab ick im Gefühl! “ – „Ick wes nicht!“ -„Glob mir! Des wird! Des wird!“ Meine Mundwinkel ziehen sich nach oben. Es ist immer noch extrem kalt, und auch der Nebel hat sich nicht wirklich verzogen. Mit einem Schaudern stelle ich fest, dass ich gleich meine Füße in meine nassen Schuhe stecken darf. Ein Griff in die Kleidung bestätigt, dass auch diese noch feucht ist. Das läuft ja fabelhaft hier, siniere ich mehr zu Dave als zu mir. Dieser liegt wie erschlagen neben mir und kann sich vor Muskelschmerzen kaum rühren. Endlich draußen stehend werden wir erneut von Tobias und Stefan gemustert. „Habt da noch was trockenes?“ Betreten schütteln wir die Köpfe. „Hier nehmt ma die!“ Zwei paar Socken werden uns gereicht. „Ey Stefan, mach ma die Suppen warm, muss eh allet weg! Kaffe?“ Wieder ein fragender Blick. Ich fühle mich wie im Himmel. Erneut ein dampfender Becher in meinen Händen. Es stellt sich heraus, dass Tobias und Stefan wirklich mit allem ausgerüstet sind. Noch bevor sie selbst gefrühstückt haben, drücken sie uns zwei Schalen mit Ente-Süß-Sauer Nudeln in die Hand. Tobias sieht wie sehr ich trotz des Teebechers und meiner zwei Jacken friere und wirft mir eine frisch gewaschene, trockene Fleecejacke entgegen. Wieder einmal kümmert sich Gott ausladend, indem er uns zwei liebevolle Bergkameraden zur Seite stellt.
Die nächsten Stunden verbringen wir mit Warten. Für diesen Aufstieg will man schließlich auch sein Foto! Und das am besten vor dem Mittag, denn da kommen die ganzen Tagestouristen, und es bildet sich eine 50 meter lange Schlange, in die man sich einreihen darf. Kurz bevor wir schließlich aufgeben, reißt der Himmel auf und lässt durch die dicken Wolken gewaltige Sonnenstrahlen. Der Ausblick ist wirklich sagenhaft, doch nichts im Vergleich zu der Nächstenliebe der zwei Berliner. Zu viert bezwingen wir den Abstieg und befinden uns nach 30 Stunden schließlich erschöpft, mit Blasen und Muskelkater versehen, aber glücklich zurück an unserem Bus. Dave und ich sind uns einig: Wir sind mehr als bereit für einen Länderwechsel.
Oma Berlin
9. August 2016 — 21:36
Liebe Clara und David,
Trolltunga war eine Herausforderung, Ihr habt sie schmerzhaft bestanden! Wie heißt jetzt die Devise für die Zukunft? Geht niemals mangelhaft vorbereitet in die Bergwelt! Die Wetter in den Bergen sind unberechenbar.
Da müssen erst die Berliner kommen, um klarzumachen, watt man allet mithaben muss, wenn man in de Berge jeht, und womit man sich stärken und übaleben kann, trockne Socken, Suppennudeln, warmet jetränk und sowat allet und ne trockne Ersatzjacke ooch noch. Mann, Mann – Ihr habt vielleicht Glück gehabt, dass die Berliner immer zur rechten Zeit ufftauchen!!!
Ein heißes Bad wäre nach der Tour gut, um eine Erkältung zu verhindern…
Ganz liebe Grüße
Oma Berlin
David & Clara
9. August 2016 — 21:40
Ja, da hast du durchaus Recht Mutti. Wir hätten definitiv mehr mitnehmen müssen. Allerdings war mein Rucksack mit über 20kg Schlafsachen Jacken etc voll. Und mehr als das nötigste zum Essen und trinken sollte Clara nicht tragen war unsere Meinung. Da sie ja gerade erst einen Hexenschuss oder was auch immer hatte, war allein die Wanderung schon äußerst riskant 😉
Armin Held
9. August 2016 — 21:58
Ihr seid nicht wirklich so auf der Kante von dem Sprungbrett gesessen?!
Mir zieht es ALLES zusammen, wenn ich das Bild anschaue!
Zeigt das euren Kindern ja nicht, bevor sie nicht mindestens zwanzig sind! Oder besser dreißig. Oder am besten 55. Dann besteht keine Nachahmungsgefahr mehr …
Wünsche euch weiterhin viele Schutzengel, von mir aus auch gerne mit Berliner Dialekt – Hauptsache sie haben trockene Socken und warme Suppe für euch!
🙂
Alles Liebe!
Janette
9. August 2016 — 22:44
Wow, was für eine wahnsinnige Herausforderung. Was für ein unglaublich geiler Ausblick!!! Mir geht’s wie Armin, alles zieht sich zusammen bei dem Blick und die Vorstellung auf den Fuß, wo ihr so über die Felskante sitzt. Und ich finde es hammergeile Fotos!!!
Was bin ich froh, dass unser sensationeller Gott euch diese Berliner da vor die Nase gesetzt hat mit soviel lebensrettenden Utensilien. Unbeschreiblich toll!!!
Super, das ihr das gemacht habt, auch wenn es super anstrengend war. Meinen Respekt!!! 👍
Für morgen wünsche ich euch alles Gute, das alles gut klappt und Gott euch behütet und beschützt auf dem Fug und natürlich generell weiter auf den neuen Wegen, die ihr gehen werdet. 😙
Clara, ich liebe deinen humorvollen, spannenden und unterhaltsamen Schreibstil! 😙❤
Carla
9. August 2016 — 22:57
Respekt!
Und meine volle Bewunderung!
Das ist wirklich sehr zu loben und dass da alles gut gegangen ist, und Du die beiden trotz ihrer Jugendlichen, vielleicht etwas leichtfertigen Mutprobe nicht hast hängen lassen!
Dann schiebst du die Wolken weg und vergönnst die ersehnte Aussicht mit gigantisch schönen Fotos….
Danke, dass Du für den Schutz und zwei „Engel“ mit Schnauze gesorgt hast,, die Du wohlwissend aller Nöte engagieren konntest, damit zwei Tiroler Kinder
(… ! ….😄) die Bergtour nun doch als Highlight in Erinnerung behalten dürfen und nebst neuen (echt coolen) Berliner Freunden ungeschoren davon kommen konnten.
Du bist einfach grandios Herr!!! 🙏🏻
PS: Ihr beiden könnt natürlich auch stolz auf euch sein! 😉
Manches im Leben bleibt unvergesslich. Vielleicht gehört diese Tour dazu.
Ich freue mich mit euch!
Eine tolle Leistung in den liebenden Händen des Vaters!
Joe
10. August 2016 — 20:49
Servus, ihr zwei Bergvagabunden,
ich bin ja schon einige Male im Gebirge unterwegs gewesen. Aber so eine Tortur habe ich mir doch noch nicht angetan. Dazu fehlt mir die Motivation, bei solchen Bedingungen weiter zu gehen. Regen, Nebel, aber vor allem nasse Klamotten haben mich noch jede Tour wieder abbrechen lassen.
Ihr wurdet aber für euer Durchhalten reichlich belohnt. Und dann war es die Superanstrengung doch wert. Die beiden Berliner haben jetzt bei euch was gut – nicht vergessen!
Eine Tour mit der Auszeichnng „unvergessliches Erlebnis – aber ohne Wiederholungscharakter“.
Seid herzlich umarmt!
Euer Bergvagabund mit den dicken Wadeln
Heinz und Nele
10. August 2016 — 23:18
Ihr!
seid!
unglaublich!
Ein! Appel!
und!
ein Ei!
Und doch wieder ganz normal. Erst mal motzen, gerade kurz bevor der HERR eins seiner Wunder tut.